Die Wechselbeziehung von Design und Kunsthandwerk
- Chhail KhalsaAnuvad
In letzter Zeit beobachten wir ein wiedererstarktes Interesse am Kunsthandwerk. Denn in der Disziplin des Kunsthandwerks vereinen sich Design, Kunstfertigkeit, Anthropologie und Kulturwissenschaften, mit einem Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit und kultureller Identität.
Das Kunsthandwerk wurde ursprünglich als Teil der sozialen Symbolik, der Kommunikation und der eigenen Identität praktiziert. Entweder wurde es für den eigenen, persönlichen Gebrauch ausgeübt, wie beispielsweise Stickereien als Teil der Mitgift, oder für eine klar bestimmte Gemeinschaft und einen klar bestimmten Zweck, wie beispielsweise das traditionelle, auf der ganzen Welt praktizierte Weben.
Heutzutage gibt es ein grosses Interesse an den traditionellen Kunsthandwerksberufen. Weltweit ist «Kunsthandwerk» das neue Schlagwort. Jeder zweite Designer hat das Gefühl, dass es seine moralische Pflicht sei, das Kunsthandwerk zu retten. Und darin liegen sie ja auch gar nicht mal so falsch. Worüber ich heute aber sprechen möchte, sind die ethischen Grenzen, wenn es um Eingriffe in das Design von Kunsthandwerk geht. Wo hört Design auf und wo beginnt das Handwerk? Die Kunsthandwerker übten ihr Handwerk seit jeher aus, ohne dass ihnen ins Design hineingeredet wurde. Warum haben wir nun plötzlich das Gefühl, ihnen «helfen» oder sie «befähigen» zu müssen?
Werfen wir einen Blick zurück auf die Geschichte: Zu einem grossen Teil entstanden die traditionellen Kunsthandwerkskünste vor ein paar Jahrhunderten. Sie wurden praktiziert, um ein lokales, kulturelles Bedürfnis einer bestimmten Community zu befriedigen. Die Kunsthandwerker hatten verschiedene Rollen inne, sie waren «Kultur-Insider», Schöpfer, Macher, Designer, Produzenten - alles in einem. Ein Beispiel: Ein Kunde bestellte bei einem traditionellen Weber einen Schal. Der Kunde (ein Mitglied der lokalen Gemeinschaft) brauchte einen Schal und hatte eine grobe Vorstellung vom Endprodukt. Danach war es die Aufgabe des Kunsthandwerkers, den Design-Teil zu übernehmen, das Bedürfnis des Kunden zu verstehen, eine Lösung zu kreieren, zu produzieren und das Produkt schliesslich an den Kunden zu liefern.
Im Zuge der Industrialisierung sahen sich die meisten Kunsthandwerksbetriebe dann aber mit einer geringeren Nachfrage konfrontiert, was sie zwang, sich zu diversifizieren und umzusatteln. Hier kamen die Designer ins Spiel.
Theoretisch war es eine gute Idee: Design als Disziplin ist in der Lage, neue Wege für bestehende Techniken zu suchen. Viele Designer sind daran interessiert, die spannenden Möglichkeiten des Kunsthandwerks in Produkte, die für einen grösseren und somit lukrativeren Markt geschaffen werden, zu integrieren, sodass das Knowhow des Kunsthandwerks nicht verschwindet. So nobel dieser Gedanke meines Erachtens auch sein mag, in vielen Fällen geht man zu weit!
Es gibt viele Designfirmen und sogar NGOs, die versuchen, positive Veränderung herbeizuführen, indem sie Gemeinschaften ermutigen mit ihnen zusammenzuarbeiten. Aber dabei verschwimmen die Grenzen der Zusammenarbeit und der Co-Kreation durch das Diktat von aussen. Eine NGO (deren Name hier nicht genannt werden soll) arbeitete mit indigenen Stickerinnen zusammen, deren Stickereien lange hauptsächlich für die eigene Mitgift genutzt wurden. Die Frauen begannen bereits im Alter von 5 Jahren mit der Arbeit an ihrer Mitgift. Als die Industrialisierung einsetzte, wollten diese Frauen ihre traditionelle Kleidung aber nicht mehr tragen und stiegen auf maschinengefertigte Kleidung um. Daraufhin wurden die Stickerinnen von besagter NGO kontaktiert, um ihr Handwerk nun für einen externen Markt zu praktizieren. Dies wurde also beschlossen und die Stickerinnen bestickten Kleider für den städtischen Markt. Die Frauen erhielten Produkte mit Markierungen für die Stickereien, zusammen mit den Farben und den zu verwendenden Stichen. Diese Frauen waren es bis anhing gewohnt, ihre Produkte (Kleidung, Wohnaccessoires etc.) selbst zu gestalten, wobei sie ihre Farben, Techniken und die Platzierung der Motive immer selbst wählten. Denn dies ist der Kern des Handwerks. Meiner Meinung nach hat diese NGO den Frauen zwar ermöglicht, durch eine gewisse Einkommensgenerierung unabhängig zu sein. Sie vernachlässigte jedoch auch ihre Fachkenntnisse, die über die reine Ausführung von sauberen und ordentlichen Stickereien hinausgingen. Denn die Stickerinnen waren stets ihre eigenen Designerinnen.
Es ist wichtig, das Kunsthandwerk zu verstehen, bevor man sich daran macht, es zu «ermächtigen». Offen gesagt, ist dieses Wort an sich schon unangebracht. Das Kunsthandwerk braucht keine Ermächtigung, es ist schon «mächtig». Was gebraucht wird, ist «ethische Innovation». Ethische Innovation ist Innovation in einem Kunsthandwerk / einer Gesellschaft / einer Gemeinschaft, bei der alle beteiligten Personen - in diesem Fall die Kunsthandwerker - ein Mitspracherecht haben. Sie ermöglicht einen Austausch auf Augenhöhe statt eines Top-down-Innovationsansatzes.
Es stellt sich also die Frage im obigen Beispiel, was anstatt getan werden könnte. Nun, zum Beispiel könnten die Stickerinnen in mehreren Workshops in Farbe, Komposition, Trendforschung und Designdenken geschult werden. Dies würde es ihnen ermöglichen, für einen grösseren Markt zu entwerfen. Auch wenn Markierungen für eine einheitliche Produktion wichtig sind, könnten die Stickerinnen Farben und Stiche wählen. Dies würde es ihnen ermöglichen, aktiv am Designprozess teilzunehmen.
Viele Designer oder sogar NGOs arbeiten intensiv mit Kunsthandwerk. Es mangelt aber immer noch an Sensibilität, wenn es darum geht, mit dem Kunsthandwerk auf eine «richtige» Art und Weise zusammenzuarbeiten. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass die Kunsthandwerker auch oft begierig darauf sind, von Designern Anweisungen zu erhalten, da sie den Eindruck haben, dass die Designer besser ausgebildet und erfahrener sind und daher ihrer Arbeit mehr Wert verleihen. Ich glaube jedoch fest daran, dass es die Aufgabe von uns Designern ist, zu erklären, dass das Handwerk tatsächlich von den Handwerkern selbst und nicht von uns Designern geschaffen wird. Niemand kennt das Handwerk besser als der Handwerker selbst. Diese Einsicht kann ein Austausch von Fachwissen in beide Richtungen auslösen, statt nur in eine Richtung.
Bei der Arbeit mit Anuvad standen wir vor ähnlichen Herausforderungen. Als wir anfingen, waren die Kunsthandwerker recht zögerlich, ihre Meinung über die von uns beabsichtigte Arbeit zu äussern. Es war für uns wichtig, dass dieses Projekt aus einer «Zusammenarbeit» und nicht aus «Design-Anweisungen» resultierte. Wir brauchten 6 Jahre und diverse Besuche vor Ort, um die Kunsthandwerker davon zu überzeugen, dass wir es ernst meinen und wirklich substanzielle Arbeit mit ihnen leisten wollen. Wir sprachen viel über die Integration von Technologie in das Kunsthandwerk, was ein ziemlich neuartiges Konzept ist. Es war sehr wichtig für uns, dass die Kunsthandwerker unsere Vision teilen. Wir erreichten dies durch Co-Creation-Workshops, gemeinsamen Informationsaustausch und viele Gespräche mit den Kunsthandwerkern während der Teepausen. Wir haben verstanden und akzeptiert, dass die Kunsthandwerker uns nicht brauchen, sondern dass umgekehrt, wir sie brauchen. So begann ein gegenseitiger Austausch. Für uns «Designer» ist es wichtig, dass wir mit Einfühlungsvermögen an das Kunsthandwerk herangehen. Als wir mit den Kunsthandwerkern über unsere Vision zu sprechen begannen, brauchte es drei Besuch, bis wir ein ehrliches Feedback erhielten. Dann erhielten wir aber nicht nur interessante, kritische Rückmeldungen von ihnen, sondern auch neue Ideen. Schliesslich machten sie sich die unsere Arbeit und Vision selbst zu eigen. Meine Meinung: Die Kunsthandwerker sind selbst Designer mit zusätzlich einem grossen Skillset, wodurch sie in vielem besser qualifiziert sind als wir «Designer».
Kunsthandwerk ist nicht nur eine Technik oder ein Medium. Es ist eine Community, es ist ein Gefühl. Wenn wir als Designer das nächste Mal mit solchen Communities arbeiten, sollten wir mit Empathie und gegenseitigem Respekt aufeinander zukommen. Das Kunsthandwerk überlebt aus eigener Kraft, ohne Designer, in den meisten Fällen seit über 100 Jahren. Wenn wir Designer die Technik und Ästhetik des Kunsthandwerks nutzen wollen, müssen wir verstehen, dass dieses Wissen auch jemandem gehört. Wir müssen reflektieren, ob wir nur diese Fähigkeiten nutzen wollen oder ob wir wirklich das Kunsthandwerk an sich, mit allen Emotionen und Praktiken respektieren wollen. Wenn wir letzteres tun, schaffen wir eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Worauf warten wir also?